Sonja
Sie wartet auf das Wasser für den Tee. Die Mutter schläft noch. Der
Kochtopfdeckel wackelt. Der Wasserkocher ist letzte Woche leider
kaputtgegangen. Sie sitzt am Tisch und lässt ihren Tee ziehen. Als sie
den Teebeutel nach fünf Minuten in den Müllkübel unter der Spüle an der
Wand links vom Küchenkästchen wirft, fällt ihr auf, dass man ihn
raustragen muss. In den 12. Stock. Und sie fährt mit dem ruckelnden Lift
nach oben, um dort den Müll runterzuwerfen und ihm zuzuhören, wie er
langsam nach unten fliegt und aufschlägt auf einem Haufen aus Federn,
duftenden Shampooflaschen und Teebeuteln. Sie fliegt mit dem Beutel
nach unten – um dann ihre Augen wieder zu öffnen und sich darüber klar
zu werden, dass das kein Rosenduft ist, der ihr da entgegenkommt,
sondern der Gestank von Tampons, Konservendosen und faulendem
Obst. Ob ihr das wohl fehlen wird?
Sonja schleppt ihren Koffer durch die Schwingtüre der U-Bahn-Station.
Vorbei an dem Zeitungsständer, der immer befüllt ist. Vorbei an den
großen Schwingtüren, die immer offen gehalten werden, von den
Menschen vor ihr. Ihr Unterarm brennt. Ihre Füße brennen. Ihr Kopf
brennt. Aber die hohen Schuhe hatten keinen Platz mehr im Koffer. Und
die alten Turnschuhe sollten dort bleiben, wo sie ihr bisheriges Leben
verbracht hatte. In dieser Wohnung. Direkt neben den Weinflaschen, die
sie am Abend vorher geleert hatten.
Die U-Bahn ist vollgestopft. Wie immer. Sie ruckelt vor sich hin. Sonja hat
drei Stationen zu fahren. Die dunklen Wände und die dunklen Kabel
ziehen an ihr vorbei. Mit ihrem Oberkörper auf den Koffer gelehnt schließt
sie ihre Augen. Sie waren in ihrem Lieblingsrestaurant, beim Inder um die
Ecke, gestern. Um sich zu verabschieden. Inmitten dieser neuen,
vertrauten Gesichter. Ihre Schützlinge des letzten Studienjahrs.
Jeder lächelt herzlich. Jeder erzählt herzlich seine Geschichte. Die
Version der Geschichte, die passt. Jeder erlaubt einen Einblick durch einSchaufenster. Nicht mehr. Nicht weniger. So wird es auch sein, wenn sie
in der neuen Stadt ankommt. So wird es auch sein, wenn sie sich
vorstellt. Den neuen vertrauten Gesichtern. In der fremden Stadt. Wo sie
auch ein indisches Lokal finden wird, in dem sie ihre Willkommensfeier
abhalten wollen wird. Voll erschöpfter Erwartung.